Gunnar Schmidt – Mythos-Maschine Citroën DS
Talk mit Prof. Dr. Gunnar Schmidt über die Kraft der Mythologisierung und ihrer Inszenierung am Beispiel »Citroën DS«.
Seit seiner Erstvorstellung im Jahr 1955 ist über den Citroën DS bereits viel gesagt und geschrieben worden – was hat Sie gereizt, diesem Thema noch Neues hinzuzufügen?
Als Kultur- und Medienwissenschaftler interessiert mich prinzipiell immer die Frage: Wie kommt Bedeutung in die Dinge? Am Beispiel des Citroën DS – einem bedeutenden Designobjekt des 20. Jahrhunderts – hat es mich interessiert, diesen Vorgang mit Hilfe einer Fülle historischen Materials genauer zu rekonstruieren. Zusätzlich war mir aufgefallen, dass Roland Barthes in seinem berühmten Aufsatz von 1955 über den DS zahlreiche Ideen äußert, aber erstaunlich wenig Begründungen für sie liefert. Hier nach Antworten zu suchen, hat mich ebenfalls interessiert.
Roland Barthes nannte den DS in dem erwähnten Aufsatz einen Gegenstand, der vom Himmel gefallen zu sein schien. Was hat er damit gemeint?
Zum einen sicher das vorbereitungslose Auftauchen des Autos und seine sensationelle Neuheit. Das Unternehmen Citroën hatte sich während der Entwicklung, die in den 1930er-Jahren begonnen hatte, um extreme Geheimhaltung bemüht. Man kann seine Formulierung aber auch als eine Art erste bewusste Aufwertung des Autos und eine ironische Anspielung auf das Namenskürzel DS lesen: Déesse, die Göttliche, die aus dem Himmel kommende.
Dieses Fahrzeug bringt dich nicht voran, es bringt dich nach oben. Andere fahren auf Straßen, du gleitest über die Welt.
Dem Citroën DS ist gelungen, was sich viele Marken bei ihrer Einführung wünschen – nämlich den Orbit des Alltäglichen schnell zu verlassen, um eine bedeutende Rolle im Leben vieler Menschen, sogar eines ganzen Landes zu spielen. Was hat dabei geholfen?
Die klassische Antwort darauf wäre: seine radikal neuartige Formgebung im historischen Kontext. Der Bruch mit der kutschenartigen Kastenform anderer Autos und mit der Wulstigkeit und Länge amerikanischer Modelle. Auch eine Reihe technischer Neuerungen wie weiche Federungen oder neuartige Verglasung wären zu nennen.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage, warum der DS über Nacht derart populär werden und den Zeitgeist des europäischen Aufbruchs mit seinem Wunsch nach Leichtigkeit so genau treffen konnte. Dafür ist wohl die erfolgreiche Mythologisierung des DS mitverantwortlich. Roland Barthes trägt selbst dazu bei, indem er den DS den neuen Nautilus nennt – jenes sagenhafte U-Boot, mit dem Jules Verne seinen Kapitän Nemo überlegen durchs Meer schweben lässt.
Barthes bringt den DS auch in Zusammenhang mit glatten Science-Fiction Weltraumschiffen, dem heiligen Rock Christi und gotischen Kathedralen. So bestärkt sein Aufsatz, der Mythenbildung eigentlich kritisch hinterfragen will, am Ende den entstehenden Mythos DS.
Die strategische Werbung durch Citroën indes inszeniert den DS nicht als Auto, sondern als attraktives Bild, das an eine Flugmaschine, eine Rakete, ein Über-Objekt denken lässt. Damit trifft das Marketing den Nerv der Zeit, die den Krieg vergessen und von Zukunft und sozialem Aufstieg träumen möchte.
Der DS versprach also auch ein neues Gefühl von Mobilität?
Genau, eine viel weiblichere Idee davon. Weicher, leichter, ohne virile Stoßstangen und Kühlergrille. Gleitender und in die Vertikale gerichtet statt in die Horizontale. Dieses Fahrzeug bringt dich nicht voran, es bringt dich nach oben. Andere fahren auf Straßen, du gleitest über die Welt. Aus dieser Idee erklärt sich auch, warum bei Messen der DS oft ohne Räder, also scheinbar schwebend inszeniert wurde.
Solche Inszenierungen kannte man im Zusammenhang mit Autos wohl eher aus dem Museum.
Die Nähe zur Kunst ist sicher kein Zufall. Der DS-Designer, Flaminio Bertoni, war ursprünglich Bildhauer. Und die extrem avantgardistische Inszenierung des DS war von Anfang an Teil der Vermarktung. Bis heute beschäftigen sich immer wieder Künstler mit dem DS. Der mexikanische Konzeptkünstler Gabriel Orozco ist einer von ihnen. Für seine Arbeit »La DS« ließ er das mittlere Drittel des Autos herausschneiden.
Die wieder zusammengefügten Teile überhöhen den Zeichencharakter des Autos, lassen es wie ein Projektil, wie eine Skulptur erscheinen, die Teile des futuristischen Manifests illustrieren will: … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. Derlei Verschränkungen, Bezüge werden in meinem Buch aufgezeigt. Anhand einer materialreichen Analyse wird der historische Produktionsprozess der DS als Design-Mythos nachgezeichnet und in den Themenfeldern Mythos, Ikone, Kunst gründlich beleuchtet.
Noch einmal zurück zu dem Thema Mythos. Lässt sich theoretisch jeder Gegenstand, jede Marke mit den richtigen Zutaten und einer wirksamen Geschichte so aufladen, dass sie zum Mythos wird, wenn man es nur schlau genug anstellt?
Wohl nicht. Es bedarf besonderer Konstellationen, um aus einem Gegenstand einen Mythos oder eine Ikone werden zu lassen. Wie ich bereits erwähnte, waren das im Fall des DS besondere geschichtliche Konstellationen. Erst Krieg und Ruinen. Dann Sehnsucht nach Neubeginn und Perfektion. Ob Citroën all dies strategisch voraussah oder intuitiv spürte, lässt sich heute schwer sagen. Der wirtschaftliche Erfolg war auf jeden Fall groß. Citroën verkaufte in der Zeit zwischen 1955 und 1975 rund 1,5 Millionen DS-Fahrzeuge. Mit der Ölkrise endete das Aufbruchsmomentum und es sollte rund weitere 35 Jahre dauern, bis die DS-Idee wieder belebt wurde.
Inwiefern profitiert Citroën noch heute vom Mythos DS?
Im Jahr 2009 brachte Citroën mit dem DS3 ein neues Modell auf den Markt, das sich zumindest vom Namen her direkt auf den alten DS bezieht. Seit 2014 gibt es nun die eigenständige Premiummarke DS Automobiles, die neben Citroën, Peugeot und anderen Marken zur PSA Group gehört. Die neue Premiummarke, so PSA steht für »Stil und Spitzentechnologie, Komfort und Dynamik, edlen Materialien und Raffinesse.«
Diese Positionierung ist nicht weit vom alten DS-Gedanken entfernt, der ebenfalls zuerst auf Besserverdiener abzielte, die Le Monde auf dem Beifahrersitz liegen haben und auf dem Rücksitz Liebe in Sichtweite des Eiffelturms machen. So hatte Helmut Newton die bereits zum Klischee gewordenen DS-Franzosität im Jahr 1974 in einer Fotoserie ironisiert.
Warum ist Ihr Buch besonders für Markenmacher und Werbemenschen lesenswert?
Sie könnten besser verstehen, dass Mythen auf der Grenze von Wunsch und Versprechen einerseits und Weltverständnis andererseits operieren. Gegenwartsbezüge sind also ebenso ernst zu nehmen wie das Zu-Hoffende, das Kommende. Simple Produktkampagnen erfüllen gewiss ihre informierende Funktion. Aber erst wenn Wirklichkeitsaspekte seriös bedacht werden und das Produkt wie die begleitende Kommunikation auf diese intelligent reagieren, dann können Marken die Seele adressieren.
Das Buch Mythos-Maschine von Prof. Dr. Gunnar Schmidt ist bei edition imorde erhältlich.